Gehen als emanzipatorischer Akt

Gehen – mit 5000 Jahren Patriarchat im Nacken, gar nicht so leicht. Es ist nur wenige Jahrzehnte her, dass Frauen ohne Einstimmung ihres Ehemannes ein eigenes Bankkonto eröffnen oder ein Angestelltenverhältnis eingehen durften.
Die Emanzipation der Frau hat uns viel gebracht: Wo Frauen noch vor zwei Generationen dafür kämpfen mussten, studieren zu dürfen, sind mittlerweile angehende Ärztinnen in der Überzahl.

Auch wenn sich nach außen hin scheinbar viel ändert, unsere Körper zeigen noch deutliche Spuren davon, dass Frauen bis vor gut hundert Jahren ans Haus gebunden waren. Das Haus – zu Fuß – zu verlassen? – Undenkbar.

Ohne Anstandsdame, Schoßhündchen und Handarbeitsbeutel, ins Freie zu gehen schickte sich nicht für eine Dame von Stand. Allein unterwegs waren Arbeiterinnen und leichte Mädchen. Frauen hatten kein Eigentum – sie waren Eigentum, erst ihres Vaters und dann ihres Mannes.
Einfach gehen war keine Option.

Die ersten tollkühnen Frauen, die sich trauten, über Wiesen und Felder, oder – du ahnst es, gar auf die Berge zu gehen, schrieben in ihre Tagebücher:

Gehen ist ein befreiender und emanzipatorischer Akt.

Mit ihren knöchellangen Kleidern waren Frauen in keiner Weise ausgestattet, Wind und Wetter zu trotzen und mit ihren Schühchen nicht vorbereitet, Wege zu verlassen. Mehr noch: Sie waren Opfer von Nachstellungen und schiefer Blicke.

Gehen ist heutzutage etwas Beiläufiges und nicht der Rede wert, meinst du? Ein fataler Fehler, denn es bestimmt darüber, wie über uns geredet wird. Auf dem Weg zum Rednerpult ebenso wie zum Traualtar: Wir werden gesehen. Wie – liegt ganz bei uns.

Unser Gangbild wird von anderen wahrgenommen: Schrittlänge, Spurbreite, Haltung, Tempo entscheiden darüber, ob wir uns fließend, rhythmisch und wohl koordiniert auf der Bühne des Lebens bewegen.

Wie du kommst gegangen

Neben der optischen Erscheinung entscheidet auch der akustische Eindruck, wie wir empfangen werden. Es lohnt sich, Bewusstheit einzuladen, denn ein schleppender, schlurfender Gang wird automatisch assoziiert mit Unsicherheit und Unbeholfenheit.

Im Burlesque, Catwalk oder beim Gehen auf hohem Niveau, wie Edeltraud Breitenberger es in ihrem Buch DEIN STARKER AUFTRITT beschreibt, lernen Frauen, Bewusstheit einzuladen und Pausen aktiv zu nutzen. Sie erfahren, wie genussvoll sich der Sound von Strümpfen anhört, wenn Knöchel oder Knie sich leicht berühren. Sicher kein MUSS aber deutlich angenehmer als das Geräusch von an Schenkeln wetzendem Jeansstoff.

Wer jetzt mit den Augen rollt, sei gemahnt, sich vor Augen zu führen, dass 5000 Jahre Patriarchat uns Frauen, zu Good Girls transmutieren ließ, schlicht um zu überleben. Lustvoll Gehen war etwas, was Ausgrenzung und damit Armut und Unsicherheit nach sich zog. Lese hierzu auch Frauen auf den roten Teppich.

Die Frage: „Willst du mit mir gehen?“ hat sich vor gut 100 Jahren so nicht gestellt.

Wenn Frauen kommen wollen, müssen sie gehen lernen…

Das Weite suchen


Enge, Bedrückung oder gar häuslicher Gewalt zu entfliehen war den wenigsten Frauen möglich. Schamvoll fügten sich Generationen von Frauen ihrem Schicksal, denn eine Scheidung bedeutete, sich von der Versorgung für sich und die Kinder abzuschneiden. So, wie Frauen ans Haus gebunden waren, wurden auch ihre Gefühle unterdrückt. Trauer, Wut oder bewahre: Neid zu fühlen, versagen wir uns bis heute. Dabei bringen uns gerade diese Gefühle in Kontakt mit unserer Sehnsucht.
Heutzutage lassen sich Frauen vieles nicht mehr bieten. Statt das „Weite“ zu suchen, finden sich viele von ihnen jedoch genau dort wieder, wovor vor allem Mütter Angst haben: In bedrückender finanzieller Enge. Lese dazu auch Wohl:stand – und was er mit deiner Mutter zu tun hat.

Auch heute noch gilt, was die Pionierinnen unter den Fußgängerinnen erkannt haben: Ein flotter Spaziergang – vor allem in der Natur – ist ein befreiender Akt. Wann immer unser Herz verschlossen ist und wir nicht wissen, wo es langgeht mit uns, rufen sie uns beherzt zu: GEH RAUS – JETZT!

Politiker setzen seit jeher auf die geheimnisvolle Macht eines Spaziergangs in verfahrenen Situationen: Gehen bewegt nicht nur den Körper, sondern bringt uns auf neue Gedanken.

Eine Frau braucht heute keinen Grund mehr, um zu gehen, wenn sie keinen mehr hat, um zu bleiben.

Wütend gehen


Was sie aber braucht, ist Standing. Und Auftreten.
Wütend aufzustampfen kann frau lernen: Flamenco hat es zur Kunstform erhoben. Und es bewahrt uns vor einem vorschnellen „Mir reichts – ich schmeiß alles hin.“
Frauen lernen, oder dürfen lernen, sich beizeiten mit ihren Gefühlen zu verbinden und sie auszudrücken. Emotionen wie Wut helfen uns, aus dem Alltagstrott heraus.
Schweißtreibendes Tanzen, Hüpfen, sportliches Seilspringen, und vor allem das gelenkschonende Schwingen auf einem Minitrampolin sind ein famoses Aus:Drucksmittel, um Wut nicht im System zu lassen und somit gegen uns selbst zu richten.
Wo sich unsere Ahninnen derlei unsittliches Benehmen noch versagten, genießen heutzutage immer mehr Frauen die Ekstase nach der Rage.

Der Weg zeigt sich, indem wir ihn gehen.

Männlich gehen

Es ruckelt immer ein wenig, wenn wir in den nächsten Gang schalten.
So verhielt es sich auch, als einige mutige Frauen sich ab Beginn des 19. Jahrhunderts über das Verbot hinwegsetzten, Hosen zu tragen – zum Wandern, zum Reiten oder OMG: Radfahren! Während des ersten Weltkrieges wurde das Hosenverbot für Frauen aufgehoben – Damen mussten ihren Mann stehen – sie arbeiteten in Fabriken oder bei der Eisenbahn.
Für einen Skandal sorgte Marlene Dietrich, die sich selbstbewusst gegen Konventionen auflehnte, indem sie statt züchtiger Kleidung – bequeme, weite Hosen trug.
Hosen waren nicht nur praktischer als Röcke, sie gaben den Trägerinnen ein neues Gefühl von Stärke und Selbstbewusstsein. Kein Wunder, dass aufmüpfige Frauen in Beinkleidern vielen Männern ein Dorn im Auge waren.

Wenn heutzutage eine Frau die „Hosen an hat“, sagt man ihr nach, dass das Praktische Oberhand gewinnt und sich auch sonst die Pole verschoben haben: „Die Frau opfert ihre Weiblichkeit, um sich von den Herren der Schöpfung nichts vorschreiben zu lassen. An ihrem burschikosen Gangbild kann man dies erkennen.“

Um dominant aufzutreten, muss frau sich jedoch nicht an männlicher Attitüde versuchen. Wie wäre es mit einer Erfahrung, sich einen besonderen Schuh anzuziehen? Lange galten sie als verrucht: Overknees. Stiefel, deren enganliegender Schaft bis über die Knie ragen, verlangen von der Trägerin Mut. Als Gegenleistung dafür verleihen sie einer Frau die Erfahrung von Souveränität.
Glaubenssätze sind wie Schuhe. Mehr darüber, und wie du statt Schuld – Wunder in die Schuhe schieben kannst, erfährst du im SCHUHRAKEL.

Nenne mir ein Good Girl, das die Welt verändert hat.
Das schaffst du nicht. Weil sie es nicht schafft.

Kasia Urbaniak

An die Grenzen gehen

Dass wir mit den Füßen abstimmen ist nicht nur ein geflügeltes Wort, zur Wahlkabine zu gehen braucht mehr als nur unseren Kopf. Wir müssen auf die Straße gehen für unsere Rechte. Das kostet Mut und Engagement.
Aber auch im häuslichen Bereich geht heute mehr als je zuvor.

In unserer Kultur sind wir allesamt von Frauen erzogen worden, deren Wünsche gering geachtet wurden und geringere Entfaltungsmöglichkeiten hatten als wir sie heute haben. Männer zu fragen, sei es um eine Gehaltserhöhung, Sex anders zu erleben als üblich, eine Auszeit von der Arbeit, oder schlicht, uns lästige Dinge abzunehmen… lässt uns an unsichtbare Grenzen stoßen. Frauen trauen sich oft auch heute noch nicht zu fragen, aus Angst, ein Nein als Antwort zu kassieren.
Deshalb schultern emanzipierte Frauen mehr, als uns gut tut. Deshalb sind wir es gewohnt, Dinge selbst in die Hand zu nehmen, statt Hilfe anzunehmen.

Diese Grenzen weiten wir nur dann, wenn wir uns trauen – zu weit zu gehen und uns dort, an diesem Ort umzusehen. Ja – unser Nervensystem reagiert mit Flucht oder Starre. Denn eine Ablehnung – so ist es in unserer DNA gespeichert, bedeutete für unsere Vorfahrinnen, schutzlos und im schlimmsten Falle Freiwild zu sein.
Aber wie lange wollen wir uns noch davon zurückhalten lassen, frei und wild zu leben, wenn und wann es uns gefällt?

Im Körper gespeicherte Traumata befreien wir durch Besänftigung unseres Nervensystems, zum Beispiel, indem wir uns liebevoll, zärtlich und genussvoll berühren.
Körpersprachlich können wir dem durch kraftvolles Ausschreiten, große, entschlossene Schritte, aufrechter Haltung und entsprechender Kleidung Ausdruck geben. Wunderbarer Nebeneffekt ist, dass wir unseren Bedürfnissen eine Stimme geben. Denn durch selbstbewusstes Auftreten, nutzen wir die Kraft im Becken.

Und während du mit klopfendem Herzen deine Komfortzone weitest, darfst du dich unterstützt fühlen. Halte inne und lausche – genieße das anerkennende Raunen deiner weiblichen Ahnenlinie. Spüre ihre Freude und Erleichterung darüber, dass du diejenige bist, die sich traut und diese lange Kette von Angst zu zerbrechen.

Geh ein Stück zu weit – und schau dich dort um.

Fortschritt

Nicht zuletzt will der gesundheitliche Aspekt erwähnt werden. Gangbild und Haltung wirken nicht nur auf Skelett und Muskeln, sondern in besonderem Maße auch auf die Psyche: Achtsamkeit und Kraft werden gleichermaßen geschult wie Respekt und Selbstwirksamkeit. Denn jeder bewusste Schritt ist ein Schritt in die richtige Richtung.


Gehen darf weit mehr sein, als allmorgens aus dem Haus und zu Bus zu eilen. Gehen darf in Flanieren, Bummeln, Schlendern münden. Lustvolles Strawanzen statt freudloses auf der Stelle treten. Ausgelassenes Hüpfen aus der Komfortzone und Einstehen für die eigenen Belange.
Gehen darf ein Vorausgehen sein. Vorbild sein für andere, die sich (noch) nicht trauen. Für unsere Töchter, die Frauen in Ländern, in denen es ihnen noch so geht, wie uns hierzulande vor gar nicht langer Zeit.
Gehen darf, zusammen mit den wundervollen Männern an unserer Seite, ein respekt- und würdevolles Voranzuschreiten sein, in dem wir eingeladen sind, uns unserer Fußabdrücke in der Welt bewusst zu sein.

Liebe Grüße und denk dran; es geht immer mehr, als wir denken.

Birgit

So wie bisher geht es nicht weiter? Wenn du etwas verändern willst, lass dich von meinen Büchern inspirieren oder in einem ganzheitlichen Coaching.

4 Kommentare
  1. Dr. Jan Wienands sagte:

    mitgelesen habe ich
    mitgehen tue ich
    Ich an der Seite meiner Frau
    Sie an der Seite ihres Mannes
    Zwei stolze Schatten uns folgen

    Antworten
  2. Edeltraud Breitenberger sagte:

    Liebe Birgit,
    vielen Dank für die verschiedenen Aspekte und Deine Beleuchtung des Gehens was mich schon immer fasziniert hat. Es macht so einen Unterschied „wie“ man sich von einem Fuß auf den anderen bewegt. Oft bin ich Menschen hinterhergegangen und habe ihren Gang versucht zu imitieren. Ich fühlte mich niedergeschlagen, deprimiert, selbstbewusst, fröhlich und noch viel mehr. Ja ich gebe es zu, ich habe einen Gehfaible – aus meiner eigenen Geschichte heraus.

    Ich selbst habe lange mit meiner Weiblichkeit gehadert und mich nicht wirklich gespürt. Oft habe ich mich klein gemacht und hatte Hemmungen mich zu zeigen. Einen langen Weg bin ich gegangen und genieße jetzt mein Frausein mehr denn je.

    Ein selbstbewusster Gang macht stark! Das war eine meiner wichtigsten Entdeckungen. Ich wurde anders wahrgenommen und erntete plötzlich bewundernde Blicke.

    Mit viel Stolz und Demut habe ich gerade mein Herzensprojekt – mein Buch mit vielen praktischen Übungen -, bei Amazon: „Dein starker Auftritt“ Elegant, selbstbewusst und gesund gehen von Sneakers bis High Heels, veröffentlicht.
    Vielen Dank für Dein Kapitel: Größte Dummheit – Größtes Glück, wo Du sehr „vergnüglich“ berichtet hast, was Du bei mir in einem Workshop erlebt hast.
    Eine echte Bereicherung für mein Buch!

    Aufrecht durchs Leben gehen, sich von nichts abhalten lassen und seine Richtung behalten – auch wenn es scheinbar auch mal Umwege sind. Manchmal brauchen wir kleine Abzweigungen.

    Antworten
    • Birgit Faschinger-Reitsam sagte:

      Liebe Edeltraud,
      vielen Dank für deinen Kommentar. Ich muss schmunzeln, denn du erinnerst mich an die Zeit, als ich auch nicht anders konnte, als Menschen und ihr Gangbild zu studieren. Daran kann ich mittlerweile so viel ablesen. Die Art und Weise, wie wir gehen hat Einfluss darauf, wie wir uns fühlen. Wenn wir Bewusstsein einladen, ändern wir unsere GEH-SCHICHTE. Du hast durch deinen Tagesworkshop maßgeblich dazu beigetragen, dass ich mich nicht als Kopffüßlerin, sondern mit Vergnügen und ganzkörperlich durch meinen Alltag bewege. Deshalb fühle ich mich geehrt, dass mein Erfahrungsbericht Platz in deinem großartigen Buch gefunden hat.
      Liebe Grüße und ganz besonders an die Füße.

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