Von Selbstkritik zu Selbstakzeptanz: Warum die Bedeutung von Komplimenten oft unterschätzt wird
Als Wesen gesehen zu werden ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Warum aber fällt es Frauen oft schwer, ein Kompliment anzunehmen? In diesem Artikel nehme ich dich mit auf eine erstaunliche Entdeckungsreise ins Unterbewusste. Wach zu werden für das, was unterschwellig abläuft, lässt dich zukünftig nicht nur Komplimente selbstbewusst annehmen…
Kennst du das? Du machst einer Frau ein Kompliment, kurz strahlt sie. Doch dann – als hätte sie etwas Unangemessenes erkannt – verdunkelt sich ihr Lächeln. Was folgt, ist ein tausendmal geübtes: „Ach, das ist doch nichts…“
Im Abtun von Komplimenten sind Frauen routiniert.
So erlebte ich es diese Tage, als ich eine Frau in einem wunderschönen Kleid wahrnahm. Doch diesmal rief es meinen Forscherinnengeist auf den Plan. Auf mein Kompliment: „Du siehst bezaubernd aus in deinem Kleid,“ leuchteten für einen Augenblick ihre Augen, doch auf ihre nachfolgende Reaktion war ich nicht gefasst:
Sie antwortete: „Es hat mich Mut gekostet, es anzuziehen, weil man meine dicken Beine sieht.“
Komplimente sind wohlwollende, freundliche Äußerungen, die eine andere Person positiv hervorheben. Wenn sie uns erreichen, sind sie kleine Geschenke, die uns in der Tiefe nähren können. Sie vermitteln Freude und Wertschätzung und stärken Beziehungen.
Wenn ein Kompliment nicht nur eine leere Floskel ist, hat sie die Qualität eines Namasté. Gemeint ist der indische Gruß, der Respekt, Verbundenheit und die Anerkennung des Göttlichen in uns und in anderen Menschen symbolisiert.
Ich nahm einen neuen Anlauf und wiederholte mein Kompliment: Erneut lächelte sie für einen kurzen Moment, bevor sie begann, noch weitere körperliche Makel aufzuzählen und dazu ihr Alter ins Feld zu führen.
Wir alle haben genug Erfahrungen mit Frauen, die sich schwertun, Komplimente anzunehmen. Diese Begegnung jedoch erweckte meinen Forscherinnengeist. Ich wollte den Beweggründen nachzuspüren, warum eine Frau sich gerade in einer Situationen, in der sie Wertschätzung erfährt, klein macht und ihr Licht dimmt.
Es ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis, in seinem Wesen (nicht nur im Äußeren) gesehen zu werden.
Meine Grundannahme war, davon auszugehen, dass „etwas“ in ihr dieses Kleid ins Spiel bringen wollte. Und dass dieses Etwas dies ganz bestimmt nicht tut, um auf körperliche Makel aufmerksam zu machen.
Wie so oft helfen mir Fragen, um in die Tiefe zu gehen: Für was steht dieses Kleid? Was ist es, das frau bewegt, sich zu schmücken? Und welche inneren Stimmen schmälern ihre Freude daran, sich schön zu empfinden?
Psychologische Hintergründe: Was hindert uns am Strahlen?
Es kostet Mut, sich zu zeigen
Lass uns gemeinsam auf diesen kurzen Moment der Freude zoomen: die Dauer des Augenblicks freudiger Überraschung, bevor ihr Lächeln gefror. In diesem Innehalten öffnet sich eine Lücke, die uns einen Einblick in die innersten Sehnsüchte und Wünsche gewährt.
In uns allen steckt der Wunsch nach Ausdruck der ureigenen Wahrheit und Lebendigkeit. Das tiefe Verlangen nach Nähe, Zärtlichkeit und Verbindung. Der Wunsch nach Bedeutung und dem Drang, uns mit unseren Gaben zu zeigen und die Welt mit unserem Sein zu bereichern.
Dafür steht dieses bezaubernde Kleid. Mit ihrem Lächeln brachte sie ihren inneren Brillanten zum Strahlen – also der heile Kern in unserem Wesen, der bei Namasté begrüßt wird.
Ich fühle mich beschenkt, wenn ich einen Menschen sehe, der sein Licht strahlen lässt. Und deshalb mache ich gerne Komplimente.
Wer oder was dimmt unser Strahlen?
Und was soll damit bezweckt werden?
Wenn durch eine Leitung plötzlich zu viel Strom fließt, brennt die Sicherung durch. In unserem Körper ist es nicht anders. Wir sind es schlicht nicht gewohnt, mit viel Aufmerksamkeit umzugehen. Denke an Lampenfieber. Hier schickt das Publikum eine Welle an Energie, die den Menschen, vorn auf der Bühne überfordern kann.
Mit seiner eigenen Großartigkeit in Kontakt zu kommen, kann sich für unser Nervensystem ebenso überwältigend anfühlen. Nicht wenige greifen bei Lampenfieber zu Beruhigungspillen.
Wir waren dabei, uns auf diesen Augenblick zu fokussieren, auf die Lücke durch die sich unser kraftvolles Sein bahnbrechen will. Es passiert ganz schön viel in diesem winzigen Moment und was hier erfahren wird, ist so gewaltig, dass es sicherer scheint, rasch in Deckung zu gehen und die Lücke zu schließen. Zu selten und deshalb ungewohnt ist dieses Gefühl der eigenen Großartigkeit leider bei den meisten.
Leben oder Funktionieren? Oder warum ein Kompliment anzunehmen uns manchmal an unsere Grenzen bringt
Was bleibt ist die schmerzende Er:Innerung daran, wie es sein könnte. Und weil das weh tut, tun wir uns selbst weh, um uns von diesem Schmerz abzulenken. So, wie wir es seit Generationen gelernt haben: Wir machen uns kleiner als wir sind und dimmen unser Licht. Wir funktionieren auf ausreichendem Niveau.
Selbstbewussten Kontakt mit unserer Großartigkeit zu pflegen, dafür fehlen uns oft Rollenbilder. Im Gegenteil: Zu tief sitzt die Angst vor Kritik und Anfeindung, dass wir evolutionär bedingt vermeintlicher Sicherheit den Vorzug geben, vor der Entfaltung unseres Wesens.
Und das tut weh.
In meinem Blogartikeln liest du über die Zusammenhänge von Fuß- und anderen körperlichen Problemen und unserem Standing. Wenn du weißt, dass unsere subjektive Empfindung von emotionalen Schmerzen sich genauso intensiv anfühlen kann wie körperlicher Schmerz, dann verstehst du auch, warum deine Haltung im Leben sich in der Aufrichtung deiner Wirbelsäule spiegelt. Und warum du dich ausgelaugt fühlst, wenn du dich und deine innersten Bedürfnisse übergehst.
Komplimente – Peinliche Erinnerung?
Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass es uns schmerzt, wenn wir nicht zu uns stehen. Wenn wir auf der Stelle treten oder in die falsche Richtung gehen. Es ist uns peinlich, uns mit unserer Kunst zu zeigen, unserer Kreativität Raum und unserer Stimme Kraft zu geben. Nur zur Erinnerung: Pein ist ein veralteter Begriff für Schmerz.
Für manche sind das nur Wortspiele, für andere schmerzhafte körperliche Erfahrungen.
Wir sind nun mit unserer Untersuchung bei der Frage, warum frau sich, statt sich über ein Kompliment zu freuen, selbst wehtut, indem sie ungnädig mit sich selbst ist.
Du willst auf dem Laufenden bleiben und wünscht dir weitere Impulse über die Zusammenhänge von Körper und Psyche und bewusst gelebter Weiblichkeit? Dann trage dich im Fußletter ein. Den Link findest du unter dem Artikel.
Trostpflaster
Es braucht keine wissenschaftlichen Untersuchungen: Aus Erfahrung wissen wir, dass wir immer nur einen Schmerz empfinden können. So kann ein kleinerer Schmerz unsere Aufmerksamkeit vom intensiveren Schmerz ablenken. Wenn man sich zum Beispiel auf einen kleinen Schmerz wie ein Kratzen oder Kneifen konzentriert, kann das Gehirn abgelenkt werden und weniger intensive Signale des größeren Schmerzes empfangen.
Obwohl physischer und psychischer Schmerz unterschiedliche Ursachen haben, ist die subjektive Erfahrung des Schmerzes in beiden Fällen sehr ähnlich.
Deshalb wirkt schmerzhaftes, „sich mit anderen vergleichen“ wie ein Trostpflaster, wie auch „sich selbst herabsetzen“, oder sich im inneren Dialog „selbst beschimpfen“ (Ja, ist gar nicht so selten…)
Sich kleinzumachen lässt uns den tiefen Schmerz weniger intensiv fühlen.
Im Rausch der Endorphine
Was sich da abspielt sind unsere unbewussten „Strickmuster“. Eigentlich wünschen wir es uns anders, aber dazu müssten wir ein dienlicheres Muster kennen und aktiv wählen.
Es liegt nicht nur an der Bequemlichkeit und der scheinbaren Sicherheit, warum wir an alten Mustern hängenbleiben wie an Fliegenleim. Perfide ist, dass unser System zu allem Überfluss auch noch Endorphine ausschüttet, wenn wir uns selbst quälen, indem wir über unseren Körper lästern.
Endorphine sind Neurotransmitter, die im Gehirn und Nervensystem produziert werden und eine wichtige Rolle bei der Schmerzregulation und dem allgemeinen Wohlbefinden spielen. Man nennt sie auch körpereigene Opioide, da sie wirken wie Opioid-Medikamente, jedoch vom Körper selbst hergestellt werden.
In manchen Fällen kann das Erleben eines zweiten Schmerzes dazu führen, dass der Körper Endorphine als körpereigene Schmerzmittel freisetzt. Weil dadurch gleichzeitig das Stresshormon Cortisol gesenkt wird, verbessert sich unser Wohlbefinden.
Sprich: wir regulieren unser Nervensystem über den Umweg eines zweiten Schmerzes, um unser Wohlbefinden zu verbessern.
Fürwahr ein fragwürdiger Mechanismus, der uns im Funktionier-Modus gefangen hält.
Als Hypnotiseurin weiß ich um die verquere Logik unseres Unterbewusstseins und finde es immer interessant, auf welche hochkomplexen Bewältigungsstrategien wir bei Stress zurückgreifen – bis wir es besser wissen.
Unter Einfluss von Drogen – auch von selbst erzeugten Opiaten – stellen wir uns in der Regel keine Sinnfragen. Der Dreh- und Angelpunkt ist, dass wir uns bewusst werden über das, was unterschwellig abläuft.
Wie befreien wir uns aus undienlichen Mustern?
Vielleicht fragst du dich, wie du selbst aus diesem Mechanismus aussteigen kannst.
Werde dir zunächst über die „kleinen Schmerzen“ bewusst. Nimm aufmerksam wahr, wann du dich kritisierst und für nicht gut genug hältst. Sei auch wach dafür, wenn du Geld ausgibst: Geld für kurzfristige Selbstbelohnung auszugeben, kann ein „kleiner Schmerz“ sein. Frage dich: Fühlen sich die teuren (Schuhe) mehr wie ein Trostpflaster an oder bereichern sie dich nachhaltig? Brauchst du die fünfte Ausbildung für teures Geld und das zehnte Diplom wirklich oder dienen sie als Ablenkung davon, dich selbst mit deinem Wissen und deiner Erfahrung zu zeigen.
Dem Augenblick Dauer verleihen – Das Kompliment landen lassen
Wir sind zurück beim kurzen Moment des Lächelns nach einem Kompliment. Was braucht es, damit das Kompliment landen kann, um es genießen zu können?
Für mich selbst war es vor vielen Jahren eine Übung, wertschätzende Rückmeldungen zu empfangen. Mehr als ein schlichtes „Danke“ braucht es nicht. Das Lächeln kommt von alleine.
Mach Kunst daraus
Bewusstsein ist der Schlüssel. Beginne, dich selbst wohlwollend zu beobachten.
Dann der Knackpunkt: Das Gefühl, das Schmerz bereitet. Sei es Trauer, Wut, Enttäuschung… Ein großer Schritt besteht darin, dieses Gefühl nicht wie bisher zu betäuben und wegzudrücken, sondern ihm Raum zu geben. Einfach „da bleiben“ bei dir und diesem Gefühl. Ein paar Minuten genügen. Erlaube dir, Frieden mit diesem Gefühl zu schließen.
Statt der „kleinen Schmerzen“, die bislang als Trostpflaster dienten oder deine Sinne im Endorphinrausch benebelten, spürst du eine stille Freude.
Den großen Schmerzen Raum geben kannst du auch, indem du sie in geeigneter Form zum Ausdruck bringst. Darüber schreiben, weinen, tanzen, 5 Minuten toben…
Es ist nur unser kleines Ego, das uns davor warnt, mit tiefen Gefühlen Kontakt aufzunehmen. Das Ego verliert, wenn wir erfahren, dass unsere Angst vor Gefühlen unbegründet ist.
Apropos Kunst: Ein großartiges Kunstwerk berührt uns dann, wenn sich auch die Künstlerin, der Künstler dem tiefen Schmerz gestellt und über sich hinausgewachsen ist.
Genuss statt Schmerz
Und was die körpereigenen Opiate angeht, mit denen wir unser Wohlbefinden steigern: empfehle ich dir wahren Genuss.
Je mehr wir lernen, Glückshormone nicht über Stress und Schmerz zu erzeugen, sondern über sinnlichen Genuss, umso gesünder bewegen wir uns durch unseren Alltag.
Das klingt für manche banal. Mir erzählen jedoch viele, viele Frauen, dass ihnen im Laufe der Zeit die Fähigkeit, Genuss zu erleben abhanden gekommen ist. Durch eine bewusste Entscheidung kann frau sinnliche Freuden wieder einladen. Unterstützen kann dich wohlwollende Aufmerksamkeit für deinen Körper. Lies dazu z.B. auch Hautnah oder Wo die Seele wohnt.
Wenn du deinem Unterbewusstsein und deinem Nervensystem glaubwürdig vermittelst, dass du sicher (und deiner selbst sicher) bist, bist du eine wache Frau.
Mit sinnlichem Genuss kultivierst du das Gefühl, dir selbst sicher zu sein.
In meinem Buch Mit Vergnügen – Erzählung – Von einer Frau auf dem Weg zu sich selbst, liest du, wie sich Nina, die Hauptperson der Erzählung, genüsslich aus alten Mustern befreit. Dabei lässt sie sich von dir gerne über die Schulter kucken.
Hat dir heute schon jemand gesagt, dass du wundervoll bist? Kannst du dieses Kompliment landen lassen?
Schreib gerne einen Kommentar.
Alles Liebe
Liebe Birgit, ich freue mich immer sehr über Deine lebensklugen Newsletter. Sie regen zum Überdenken vieler alltäglicher Verhaltensweisen an. Besonders der sprachliche Zusammenhang von Pein und Peinlichkeit hat mich sehr berührt.Vielen Dank für Deine Arbeit- großes Kompliment ☺️
Welch ein großartiger Beitrag, liebe Birgit – Danke von Herzen für deine klaren Standpunkte. Sie bewegen mich heute wieder zu mutigen Schritten!
Vielen herzlichen Dank liebe Birgit 💝 Ich finde deinen Artikel bemerkenswert! Vor allem die Sache mit dem zweiten Schmerz macht für mich total Sinn und ich werde versuchen, mich dabei zu beobachten…. und dann etwas zu ändern. Ich liebe außerdem deine Hinweise zum sprachlichen Kontext (von „Pein“ zu „peinlich“). Toll!
Liebe Katrin,
vielen Dank. Dich selbst über ein paar Tage wohlwollend zu beobachten, bringt dir wertvolle Erkenntnisse.
Da es dich interessiert, hier noch eine Link: . Peinlichkeit und Scham
Liebe Grüße
Wundervoll! Danke für das Kompliment 🙏
Sehr spannend die Sache mit den Endorphinen!
Danke, gern geschehen.
Was die Hormone angeht: Bei einem liebgemeinten Kompliment zwischen Paaren schüttet der Körper zusätzlich noch das Bindungs- und Kuschelhormon Oxytocin aus.